Jean-Pol Martins Analogie

Lieber Jean-Pol, ich habe Probleme mit der Vorstellung, Kommunikationssysteme würden genauso funktionieren wie neuronale Netze. Nun verstehe ich nicht sehr viel von Hirnforschung. Vielleicht kannst Du die Funktionsweise eines neuronalen Netzes noch mal ausführlicher erklären. Aber ich verstehe etwas von Lerntheorie und pädagogischer Psychologie. Ich glaube nicht, daß die Erklärung biologischer Systeme für die Erklärung von Kommunikationssystemen 1 zu 1 taugen. Und vom Gehirn zum Kommunikationsnetz existiert m.E auch kein direkter Weg. Der Weg führt über das psychische System. Ich kann Deine Idee, eine Entsprechung, oder etwas ähnliches zwischen der Gehirnstruktur und seiner Funktionsweise und einem Netzwerk von psychischen Systemen allerdings verstehen. Da ist beidesmal eine Netzstruktur. Aber wer sagt, dass diese Netze gleich funktionieren? Sie sind doch aus ganz verschiedenen Zusammenhängen und Elementen gebaut. Und es ist eher anzunehmen, daß sie deswegen auch nicht gleich funktionieren. Es gibt in der Natur viele Netzstrukturen. Aber man würde sie deswegen nicht alle gleichsetzen wollen. Und was doch interessiert, ist, wie Kommunikationsnetze unter welchen Bedingungen gut oder schlecht funktionieren (z.B. als organisierter Wissensgenerator). Ich glaube nicht, daß wir passende Antworten auf diese Fragen kriegen, wenn wir sie uns biologisch analog vorstellen. In der Gesellschaft geht es anders zu als in der Natur. Und Lernvorgänge sind keine biologischen - obwohl sie das Gehirn als biologische Grundlage brauchen, sondern psychische Vorgänge, die wir nicht verstehen können, wenn wir nur das Gehirn angucken.
jeanpol - 6. Okt, 20:51

Morgen setze ich mich dran!

Jetzt ist es ein bisschen spät, aber morgen setze ich mich dran und werde antworten!

Jean-Pol Martin (Gast) - 7. Okt, 06:43

Neuronale Netze

Liebe Lisa,
ich versuche Punkt für Punkt auf deine Frage einzugehen.
- "(...) Kommunikationssysteme würden genauso funktionieren wie neuronale Netze (...)."
Kommunikationssysteme funktionieren so, wie man sie einrichtet. Wenn sie eindimensional und hierarchisch strukturiert sind, dann ist es ein Kommunikationssystem, das nur Belehrung zulässt. Aber wir wollen keine Belehrung sondern gemeinsame Konstruktion von Wissen. Daher ist es sinnvoll, die Kommunikation nicht hierarchisch zu organisieren, sondern sich an die Konstruktion des Gehirns anzulehnen, weil das Gehirn durch Zusammenwirken der Neuronen Denken produziert.
- "Vielleicht kannst Du die Funktionsweise eines neuronalen Netzes noch mal ausführlicher erklären."
Ganz vereinfacht: von außen einströmende Informationen werden durch Gruppen von miteinander verbundenen und permanent sehr schnell interagierenden Neuronen verarbeitet. Das Ergebnis dieser kollektiven Verarbeitung "emergiert" auf der Bewusstseinsebene.
- "Ich glaube nicht, daß die Erklärung biologischer Systeme für die Erklärung von Kommunikationssystemen 1 zu 1 taugen."
Auch ich glaube das nicht. Metaphern sollen nicht die Realität abbilden, sondern sie sind sind Muster die aus einem Bereich entnommen werden und auf einen anderen zur Veranschaulichung übertragen werden. Wichtig ist, ob diese Metaphern sich positiv handlungsleitend erweisen. Wenn Neuronen durch Interaktionen mit anderen Gedanken produzieren, und wenn wir auch gemeinsam Gedanken produzieren wollen (Problemlösungen) dann sollen wir uns am Modell neuronaler Netze orientieren. Und das bedeutet, dass wir wie Neuronen a) vernetzt sind und b) schnell kommunizieren und reagieren. Das ist die Leistung der Neuronenanalogie.
"Und vom Gehirn zum Kommunikationsnetz existiert m.E auch kein direkter Weg."
Das Gehirn liefert hier nur ein Muster, nach dem wir uns bei der Kommunikation und der kollektiven Wissenskonstruktion organisieren sollten.
"Ich kann Deine Idee, eine Entsprechung, oder etwas ähnliches zwischen der Gehirnstruktur und seiner Funktionsweise und einem Netzwerk von psychischen Systemen allerdings verstehen. Da ist beidesmal eine Netzstruktur."
Das ist es nicht a priori, aber wenn wir unsere Kommunikationswege wie neuronale Netze organisieren, werden wir bessere Lösungen kollektiv erarbeiten können. Das Gehirn macht es uns ja vor!
- "Es gibt in der Natur viele Netzstrukturen. Aber man würde sie deswegen nicht alle gleichsetzen wollen."
Ich mache den Vorschlag, dass wir uns an der Struktur des Gehirns orientieren, weil das Gehirn erfolgreich Gedanken produziert und das wollen wir als Gruppen auch.
"Und was doch interessiert, ist, wie Kommunikationsnetze unter welchen Bedingungen gut oder schlecht funktionieren (z.B. als organisierter Wissensgenerator)."
Ganz genau. Und wenn wir uns so verhalten wie Neuronen, werden wir schneller Probleme mit besseren Lösungen begegnen (mein Motto: "Geschwindigkeit und Vernetzung", wie Neuronen eben!
"Ich glaube nicht, daß wir passende Antworten auf diese Fragen kriegen, wenn wir sie uns biologisch analog vorstellen."
Nun: es ist meine Erfahrung, dass die Organisation in neuronalen Netzen (auch im Unterricht nach LdL) zu sehr guten Ergebnissen ("Emergenzen") führt. Vielleicht schaust du dir die konkrete Umsetzung in dem Artikel über LdL in der Wikipedia, den ich weitgehend selbst geschrieben habe und der zeigt, wie die Klasse im Unterricht "zum Gehirn" konstituiert wird:
http://de.wikipedia.org/wiki/Lernen_durch_Lehren
LIebe Grüße
JPOL

Jean-Pol Martin (Gast) - 7. Okt, 06:52

Kleine Korrektur

Ich habe gesagt, dass ich den Artikel über LdL in der Wikipedia weitgehend selbst geschrieben habe. Das ist ganz falsch: ich habe zwar immer wieder Vorlagen geliefert, aber hunderte von Menschen haben daran mitgewirkt. Insofern ist der Artikel das Ergebnis ("Emergenz") von tausenden Interaktionen zwischen Menschen, die wie Neuronen gearbeitet haben.
jeanpol - 7. Okt, 08:53

Link auf Wikipediaartikel noch direkter

Lisa Rosa - 7. Okt, 10:16

Geschwindigkeiten

Lieber Jean-Pol, danke für die schnelle und ausführliche Antwort! Wenn Du die Analogie nur als Metapher meinst, dann entspanne ich sofort. Dann finde ich, hat sie einen Erklärungswert. Man darf die Metapher aber nicht überstrapazieren. Und diese Gefahr besteht vielleicht. Man muß vielleicht auch darüber sprechen, wo ihr Erklärungswert endet. Ich habe zum Beispiel ein Problem mit der Schnelligkeit. Aber vielleicht habe ich da ja auch etwas mißverstanden, und ich freue mich, wenn Du es aufklärst. Ich will mal versuchen, deutlich zu machen, worin mein Problem besteht:
Ich glaube nicht, daß viele Schnellschüsse zum besten Ergebnis führen, nur weil es viele sind. Wikipedia ist nicht deswegen gut, weil alles zackzack geht, sondern weil es viele sind, die jedoch einzeln für sich oft sehr lange - gottlob! - an einem Artikel oder an einer Ergänzung/Änderung feilen. Der olle Spruch "gut Ding will Weile haben" hat zuweilen seine Berechtigung. Aus der Projektdidaktik und meinen eigenen Projekterfahrungen weiß ich, dass es nicht auf ein schnelles, sondern ein gutes Ergebnis ankommt. Und gute Projekte sind häufig Dreijahres-Projekte, in denen es verschiedene Phasen gibt. Natürlich auch eine Phase des "Feuerns" - meinetwegen vorgestellt in der Metapher der Neuronen. Aber kein Individuum und auch kein netzförmiges Kommunikationssystem kann und darf sich auf diese Phase beschränken. Eine solche Phase der hohen Intensität ist am Anfang der Ideenproduktion und immer wieder mal zwischendrin im Gesamtprozess richtig. Andere Phasen müssen andere Geschwindigkeiten haben: die Phase der Reflexion zb., die Phase der Modellbildungen und Konzeptualisierungen und auch die Phase der gründlichen Praxiserprobung dieser Konzepte. Deswegen gibt es in der Projektdidaktik auch den weisen Spruch von der "Kunst der drei Geschwindigkeiten". "Dran bleiben" heißt nicht immer "Feuern", was das Zeug hält. Dran bleiben heißt genauso: Das Problem mal weglegen - ohne es aus den Augen zu verlieren - und in einen anderen Modus des Betriebssystems überzugehen. Muße dazwischen zu schalten. Das Problem auf standby zu legen. Wenn man z.B. Einsteins Erzählung hört, wie ihm die entscheidenden Ideen gekommen sind, während er statt am Problem zu arbeiten, etwas ganz anderes, höchst Banales gemacht hat, dann wird einem klar, daß Ergebnisorientierung nicht so verstanden werden darf, wie in Arbeitsgruppen üblich - und auch in meinem Institut: In 45 Minuten muss das Ergebnis eines schwierigen Problems dasein. Das führt dann dazu, daß schlampig und unter Druck gehetzt gedacht wird, statt gründlich. Hauptsache, man wird zur Deadline fertig und kann irgendetwas vorlegen. Das schlampige und darum oft falsche, meist zumindest nutzlose Ergebnis wird anschließend zur Hochglanzbroschüre oder tolle Powerpoint aufgemotzt, und die Kundschaft läßt sich von der Verpackung täuschen und erkennt gar nicht, daß der Kaiser in Wirklichkeit mal wieder nackt ist.
Kurz: Ich habe das Gefühl, dass die Metapher von den feuernden Neuronen auch die Gefahr zu diesem Mißverständnis birgt.
jeanpol - 7. Okt, 11:16

Inkubation

Ich denke, beides muss sein: sowohl nachdenken und Informationen verarbeiten als auch abfeuern. Wie du siehst, brauchte ich ein bisschen Zeit, um auf deine erste Frage einzugehen (Inkubationszeit) aber langsam bin ich trotzdem nicht beim Abfeuern. Du zeigst dich kommunikationswillig und ich will dieses Angebot als Chance sehen und solange heiß halten, bis wir alles geklärt haben. Wir sind gerade dabei, ein kleines Denkprojekt zusammen durchzuführen, und ich werde präsent sein, solange du Lust hast. Die Gefahren von Schnellschüssen sehe ich sehr wohl, aber ich fokussiere eben auf das, was bisher aus meiner Sicht noch sehr defizitär ist, nämlich die schnelle Reaktion auf Anfragen, die ohne große Überlegungen zu beantworten sind. Das möchte ich auch meinen Schülern und Studenten vermitteln.
Lisa Rosa - 7. Okt, 16:42

Inkubation

Ok. Jetzt habe ich daraufhin auch noch mal das LdL - Konzept durchgesehen und gesehen, dass die "Feuerzeiten" eingebettet sind in Vor- und Nachbereitungsphasen, die in anderen Geschwindigkeiten verlaufen. Es wäre vielleicht gut, wenn das "Neuron"-Konzept nicht isoliert dargestellt würde, sondern klar würde, dass es sich bloß um eine Phase im Lernprozess handelt. Das ist so ohne weiteres nicht erkennbar. Aber auch das Netzwerken, wenn es nachhaltig sein soll, ist ja nicht ein Dauerfeuern.
jeanpol - 7. Okt, 16:48

Einverstanden

Ich bin mit dir einverstanden. Aber bei komplexen Konzepten kann man nicht schon im Vorfeld alle möglichen Missverständnisse klären. Das ganze Paket aus Theorie und Praxis erschließt sich erst voll im Diskurs, so wie wir es jetzt tun.
Lisa Rosa - 7. Okt, 17:05

Missverständnisse geklärt

Da hast Du Recht! Deswegen wäre es ja auch ganz schön gewesen, wir hätten nach Deinem Vortrag im Plenum sprechen können, wie das normalerweise üblich ist. Danke also, daß ich das sozusagen privat öffentlich mit Dir hier nachholen konnte. (Jedenfalls, was meine Fragen betrifft.)
Jetzt geht es wieder ans Alltagsgeschäft und an die vielen Projekte ... Alles Gute für Dich und bis demnächst, Jean-Pol!
jeanpol - 7. Okt, 17:35

Alles Gute auch für dich!

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jeanpol - 7. Okt, 17:35
Missverständnisse geklärt
Da hast Du Recht! Deswegen wäre es ja auch ganz schön...
Lisa Rosa - 7. Okt, 17:05
Einverstanden
Ich bin mit dir einverstanden. Aber bei komplexen Konzepten...
jeanpol - 7. Okt, 16:48

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